Das Thema Bürger*innenbeteiligung ist in Hannover nicht neu. Insbesondere in den 90er Jahren hatte Hannover eine klare Vorreiterrolle. Obwohl andere Städte aufgeholt haben und die Quantität an Bürger*innenbeteiligung in Hannover in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist, wie einige Bürgerinitiativen mit Unmut äußerten, gibt es klare Tendenzen, dem entgegen zu wirken.

Im Vorfeld der Oberbürgermeisterwahl fand eine Veranstaltung des Forums Bürgerbeteiligung in der Marktkirche statt, bei der alle Kanditat*innen für die Position des*der* Oberbürgermeister*in anwesend waren. Dies ist mittlerweile über ein Jahr her, weswegen sich das Bürgerbüro die Frage gestellt hat, wie es mit dem Thema kooperative Stadtentwicklung und der Entwicklung der lokalen Demokratie weitergeht. Im Zuge dessen fand die Veranstaltung „Lebendige, lokale Demokratie: Der Hannoversche Weg“ im Kulturzentrum Pavillon statt. Unserem Gast Claudine Nierth – Expertin für Bürger*innenräte – wurde durch Statements von Vertreter*innen von Bürgerinitiativen und Vereinen aufgezeigt, wie die hiesige Beteiligungs-Landschaft aussieht: Uwe Staade von der Bürgerinitiative Wasserstadt Limmer hat sich beschwert, dass in der Wasserstadt seit 5 Jahren keine Bürger*innenbeteiligung mehr stattgefunden hat und dass es einen Mangel an Handlungsbereitschaft seitens der Stadtverwaltung gibt. Auch Gerd Runge von der Zukunftswerkstatt Ihme-Zentrum ist unzufrieden darüber, dass Umgestaltungswünsche seit Jahren durch die Verwaltung blockiert werden.  Bernd Teunert von der Initiative Pro Kronsberg fühlt sich von der Verwaltung abgewiesen und wünscht sich eine Koordinierungsstelle bei der Stadt Hannover. Democracy in Motion, vertreten durch Klaus Windolph, fordert einen Beteiligungsrat, der aus 25 Mitgliedern besteht und für 3 Jahre eingesetzt wird. Die Mitglieder werden durch eine Zufallsauswahl mit einem qualifizierten Verfahren über 21 Kriterien ermittelt.

Gemeinsam mit dem Publikum, dem Oberbürgermeister und drei Ratsherren wurde diskutiert, wie eine Verbesserung der aktuellen Situation zu erreichen ist. In Anbetracht der aktuellen Situation konnten leider nur 50 weitere Gäste teilnehmen. Zum Großteil fand das Gespräch zwischen der Bühne und der ersten Reihe statt, jedoch hatte auch das Plenum die Möglichkeit, an das Mikrofon zu treten und ihre Wünsche, Forderungen oder Kritik zu äußern.

Claudine Nirth wurde als kundige Gesprächspartnerin in Sachen Bürger*innenbeteiligung eingeladen. Sie ist die Vorstandsvorsitzende des Vereins „Mehr Demokratie“, der bereits im Auftrag des Bundestages einen Bürgerrat auf Bundesebene initiiert hat. In unserer Veranstaltung hat sie darüber gesprochen, in wie fern man einen Bürgerrat auch auf kommunaler Ebene realisieren kann und welche Voraussetzungen dafür benötigt werden.

Nirths Meinung nach braucht es für gute Entscheidungen einen Dreiklang: Die repräsentative Demokratie, zum Beispiel Stadt- und Bezirksräte, trifft politische Entscheidungen. Wenn unlösbare oder kritische Fragen auftreten, kann eine Konsultative, also Bürgerräte, die repräsentative Demokratie beraten. Ist das dadurch erzielte Ergebnis für die Mehrheit der Bevölkerung nicht tragbar, sollen Bürger*innen die Möglichkeiten der direkten Demokratie – zum Beispiel Volksentscheide – nutzen können.

Der Bürgerrat ist ein dialogisches Format, das die Politik zu einer spezifischen Frage berät und zu diesem Zweck zeitlich befristet einberufen wird. Er ist nicht repräsentativ, sondern setzt sich aus zufällig ausgewählten Bürger*innen zusammen. Aus den gelosten Personen wird ein Querschnitt genommen, der sich zum Beispiel nach den Kriterien Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund und höchster Bildungsabschluss richtet. Zu dem Aspekt hat Claudine Nirth angemerkt, dass das Verständnis und Interesse an Politik bei den Mitgliedern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Ihrer Erfahrung nach haben am Ende dennoch alle Beteiligten die Teilnahme am Bürgerrat als eine große Bereicherung empfunden. Außerdem genießt das Format auch in Öffentlichkeit und Parlament eine große Akzeptanz. Ihre Traumvorstellung wäre, dass Bürger*innen „von unten“ Bürgerräte initiieren dürfen. Diese beschäftigen sich mit Fragestellungen und Themen, über die sich gewählte politische Vertreter*innen nicht einig werden und nehmen so eine wichtige beratende Funktion ein. Die Grundvoraussetzungen für die Implementierung und das Funktionieren der Bürgerräte sind das ernsthafte Interesse an den Ergebnissen und die Transparenz, dass „nur“ beraten wird und nicht entschieden. Für die Umsetzung und Durchführung dieser Räte wird ihrer Meinung nach eine Koordinierungsstelle, sowie ein*e einflussreiche*r, engagierte*r Fürsprecher*in benötigt. Etablieren sollte man diese Kultur durch eine Beteiligungssatzung.

Manfred Müller ist im Vorstand des Bürgerbüros Stadtentwicklung. Er betont die große Bedeutung, die die Bezirksräte in Hannover haben sollten. Sie sind gewählte Vertreter*innen der Bürger*innen und auf Augenhöhe mit dem Oberbürgermeister. Somit kann der Bezirksrat dem Bürgermeister die Beschlüsse und Forderungen der Bürger*innen direkt, ohne Einbezug eines weiteren Gremiums, kommunizieren.

Es ist wichtig, hier zwischen Bürgerräten und Beteiligungsräten zu unterscheiden. Bürgerräte werden einmalig, immer projektbezogen und zeitlich befristet (maximal sechs Monate) einberufen. Sie beraten die Politik zu einer Fragestellung, bei der keine befriedigende Einigung erzielt wird. Es handelt sich nicht um ein dauerhaftes Gremium, das alle Bauprojekte oder Veränderungen der Stadt begleitet. Dagegen ist der Beteiligungsrat, wie er von „Democracy in Motion“ vorgeschlagen wird, längerfristig angedacht. Neben aktuellen Prozessen nimmt der Beteiligungsrat selbstständig Projekte ins Visier, die er als wichtig erachtet und bestimmt die Verfahren, nach denen Beteiligung stattfindet. Er wirkt immer konsultativ, als Ergänzung der Bezirksräte, mit denen eng zusammengearbeitet werden soll.

Belit Onay, der Oberbürgermeister von Hannover, betont auch die Bedeutung der Bezirksräte. Darüber hinaus sieht er die entscheidenden Stellschrauben im Bereich der Bürger*innenbeteiligung darin, klare Rahmenbedingungen und Leitlinien zu entwickeln, sodass ein festes Regelwerk für die Handhabung von Beteiligung gegeben ist. Dennoch brauchen unterschiedliche Projekte und Bezirke unterschiedliche maßgeschneiderte Lösungen, sodass nicht nur die gut Organisierten zu Wort kommen. Um genau dieses Problem zu lösen, hält er Bürgerräte für sinnvoll. Durch diese wird auch Menschen Teilhabe ermöglicht, die sich nicht so gut artikulieren können oder aus anderen Gründen wenig Zugang zu anderen Beteiligungsformaten haben. Häufig sind es seiner Meinung nach aber genau die Personen, die von Baumaßnahmen am meisten betroffen sind. Er ist für mehr Transparenz und eine bessere Informationspolitik.

Daniel Gardemin (Grüne) ist Ratsherr, Fraktionsvorsitzender der Bezirksratsfraktion Linden-Limmer und Vorsitzender des Stadtverband Hannover. Er ist der Meinung, dass es in Hannover keine Politik-verdrossenheit gibt, da die Wahlbeteiligung in den letzten Jahren sogar gestiegen ist. Viel eher gibt es eine Verdrossenheit gegenüber den Menschen, die Politik machen. Hierbei spricht er von einer Krise der Repräsentation. Als Antwort darauf sieht er einen notwendigen Anstieg an niedrigschwelliger Beteiligungsmöglichkeiten. Gegen die Entfremdung will er mit bestimmten Instrumenten vorgehen, um die Menschen wieder zu mobilisieren. Hierbei nennt er eine bessere Informationspolitik zu Veränderungen im Stadtteil. Auch eine frühe Einbindung in Prozesse sowie einen Bürgerrat bei größeren Projekten, empfindet er als Notwendigkeit. Die Aufgabe des Mehrheitsbündnisses aus Grüne, FDP und SPD sieht er darin, Beteiligung zu institutionalisieren, sodass mehr Sicherheit und Zufriedenheit in Stadtbevölkerung sowie Verwaltung entstehen kann.

Wilfried Engelke (FDP) ist Ratsherr und Bezirksratsherr im Stadtbezirk Mitte. Er betont, dass es in Hannover immer wieder gute Beteiligungen, wie beispielsweise die Umgestaltung der Köngsworther Straße, gegeben hat. Aufgrund der Alltagserfahrungen der Anwohnenden konnten diese in dem Prozess hilfreiche funktionale Anregungen äußern und den Prozess somit voranbringen. Trotz der positiven Erfahrungen sind sich die drei Koalitionspartner einig, dass das Format Bürger*innenbeteiligung in Hannover einiger Verbesserungen bedarf und optimiert werden kann. Hierbei sieht er eine Chance im gelosten Bürgerrat und hofft, dass die Bürger*innen diese Chance auch wahrnehmen. Dieser Rat sollte eng mit den Bezirksräten zusammenarbeiten, da diese die Basis der Stadt sind, in direktem Kontakt mit den Bürger*innen stehen und ihren Stadtteil gut kennen. Engelke spricht sich dafür aus, bei Beteiligungsverfahren nicht nur auf Verwaltung, sondern auch auf externe Expert*innen, wie beispielsweise das bbs, zu setzen, wobei die Verwaltung die Ergebnisse gegebenenfalls implementiert. Als mögliches Problem sieht der Politiker, dass es bei dem Bürgerrat nur darum geht, Anregungen zu geben und letztendlich die Politik entscheidet, wie etwas gemacht wird. Dies muss vorher deutlich kommuniziert werden.

Jens Menge (SPD) ist Ratsherr und Bezirksratsherr im Stadtbezirk Ricklingen. Er spricht sich vor allem für die Stadtbezirksräte aus und bestätigt, dass diese sehr wichtig sind, da sie nah an den Bürger*innen und quasi Nachbarn sind. Die vor einigen Jahren eingeführten Stadtbezirksmanager*innen fungieren jedoch nicht als Stadtbezirksratsmanager*innen, sondern sollen das Gesicht der Verwaltung für die Bürger*innen und von ihnen ansprechbar sein. Sie agieren als Scharnier zwischen den Anliegen der Bürger*innen und der Verwaltung. In diesem Bereich sieht er Optimierungsbedarf. Die Anliegen müssen besser aufgenommen und weiteregegeben werden. Seiner Meinung nach muss Bürger*innenbeteiligung von der Spitze initiiert und von Anfang an mitgedacht werden. Außerdem bedarf es für eine funktionierende Beteiligung gut geschultes Personal.

Der Oberbürgermeister und die Vertreter der drei Farben aus der Ampel im Rat sind sich einig, dass Bürger*innenbeteiligung ein zentrales und wichtiges Thema ist. Den Hannoverschen Weg in Richtung kooperativer Stadtentwicklung und einer Weiterentwicklung der lokalen Demokratie wollen sie gemeinsam gehen und stehen Bürgerräten positiv gegenüber. Sie sind sich auch einig, dass dieser Rat nicht mehr als eine beratende Funktion haben kann. Da es noch keine konkrete Planung für Bürgerräte gibt und es bis zu deren Etablierung noch lange dauert, stellt sich den Bürger*innen und Initiativen die berechtigte Frage: Was ist die Zwischenlösung, bis es Bürgerräte gibt?

Manfred Müller macht Hoffnung und lobt die Einrichtung der Koordinierungsstelle für Beteiligung von Einwohnerinnen und Einwohnern. Er appelliert dringend an die Politiker*innen, die beschlossene Einführung einer strukturierten Bürger*innenbeteiligung im Prozess von „Mein Hannover 2030“ noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen.

Autorin: Lena Skade, Praktikantin im Bürgerbüro